Dieses Tutorial wird nicht mehr gewartet und ist unter den Titeln Alte Tonarten (Modi) – Eine praktische Hilfe und Alte Tonarten (Modi) – Eine differenzierte Anleitung zum Verständnis auf der Open Music Academy für die gemeinsame Arbeit freigegeben worden.

Alte Tonarten (Modi)

von Ulrich Kaiser

Das Thema Alte Tonarten, Kirchentonarten bzw. Modi ist sehr komplex. In diesem Tutorial werden eine pragmatische Hilfen sowie differenzierte Ausführungen zum Bestimmen eines Modus einer mehrstimmigen Komposition des 16. Jahrhunderts gegeben.

Sollten Sie bisher gedacht haben, dass man den lydischen Modus an dem Tritonus f-h und den dorischen Modus an der großen Sexte d-h erkennen kann, können Sie ihr Wissen in diesem Tutorial erweitern. Denn im Hinblick auf Musik des 16. Jahrhunderts führt dieses Denken leider oftmals zu einer fehlerhaften Bestimmung der Tonart bzw. des Modus. Die sogenannten charakteristischen Intervalle (Tritonus für Lydisch und große Sexte für Dorisch) können lediglich helfen, die lydische bzw. dorische Tonleiter oder bestenfalls die Tonart einer einfachen Kompositionen aus dem Mikrokosmos von Bela Bartók zu bestimmen.
Die folgende Anleitung bietet eine praktische Hilfe im Umgang mit älterer mehrstimmiger Musik und ermöglicht es in vielen Fällen, die Tonart bzw. den Modus einer vor 1650 komponierten Musik angemessen zu bestimmen.

Gehen Sie dabei wie folgt vor:

  • Bestimmen Sie die Finalis (hier sind in der Regel der Anfang und der Schluss einer Komposition aufschlussreich)
  • Bestimmen Sie anschließend die Terz über der Finalis unter Berücksichtigung der Generalvorzeichnung.
    • Ist die Terz über der Finalis klein, bestimmen Sie die Sekunde über der Finalis anhand der Generalvorzeichnung.
      • Ist die Sekunde über der Finalis groß, liegt eine Komposition im dorischen Modus (Dorisch) vor.
      • Ist die Sekunde über der Finalis klein, liegt eine Komposition im phrygischen Modus (Phrygisch) vor.
    • Ist die Terz über der Finalis groß, bestimmen Sie die Sekunde unter der Finalis anhand der Generalvorzeichnung.
      • Ist die Sekunde unter der Finalis klein, liegt eine Komposition im lydischen Modus (Lydisch) vor.
      • Ist die Sekunde unter der Finalis groß, liegt eine Komposition im Mixolydischen Modus (Mixolydisch) vor.

Die folgende Grafik veranschaulicht diese pragmatische Vorgehensweise:

Pragmatische Modusbestimmung nach Kaiser

Vorgehensweise nach Kaiser 2002, S. 27.

Beispiele

Ad te levavi anima meam von Giovanni Pierluigi da Palestrina

Palestrina - Ad te levavi 1 Palestrina - Ad te levavi 2

Die wichtigsten Töne der ersten Stimmeneinsätze sind a-d-a-d, was im Hinblick auf die Unterteilung der Oktave auf die Finalis d verweist. Auch die ersten beiden Kadenzen führen auf die Töne a und d (farbig beim Berühren der Abbildung), welche im d-Modus die wichtigsten Orte für Kadenzen waren (Finalis und Confinalis). Die Bestimmung der Terz über der Finalis d (d-f unter Berücksichtigung der Generalvorzeichnung) ist klein, die Sekunde über der Finalis hingegen groß. Nach unserer Vorgehensweise handelt es sich bei der Motette daher um eine dorische Komposition (was Sie sicherlich auch an der großen ›dorischen‹ Sexte d-h erkannt hätten).

Toccata a 4 von Claudio Merulo

Pragmatische Modusbestimmung nach Kaiser

Aus heutiger Sicht würde man dieses Stück wahrscheinlich als eine Komposition in F-Dur bezeichnen (sie endet auch mit einer Kadenz in F). Das Problem: Claudio Merulo, der Komponist, kannte die Tonart F-Dur im heutigen Sinn noch nicht. Bestimmen wir die Tonart wie oben beschrieben, kommen wir zu dem folgenden Ergebnis:

  • die Terz über der Finalis f ist groß (f-a unter Berücksichtigung der Generalvorzeichnung)
  • die Sekunde unter der Finalis ist klein (f-e unter Berücksichtigung der Generalvorzeichnung)
  • die Tonart heißt Lydisch

Dass wir damit richtig liegen, zeigt uns ein Blick in die Partitur, denn Merulo hat die Tonart im Titel seiner Toccata angegeben, so dass wir mit Sicherheit sagen können, dass der Komponist die Komposition im lydischen Modus geschrieben hat (genauer: im hypolydischen Modus bzw. VI. Ton).

Nunc bibamus non sgeniter von Orlandus Lassus (1532–1594)

Beispiel Lassus

In diesem Fall führt der oben beschriebene Weg zu dem folgenden Ergebnis:

  • die Finalis ist d
  • die Terz über der Finalis d ist klein (d-f unter Berücksichtigung der Generalvorzeichnung, im Schlussklang hingegen erklingt im Cantus bzw. Alt ein fis)
  • die Sekunde über der Finalis ist groß (d-e unter Berücksichtigung der Generalvorzeichnung)
  • die Tonart heißt daher Dorisch

Benedicta sit Sancta Trinitas von Giovanni Pierluigi da Palestrina

Palestrina 1 Palestrina 2

Palestrina, Benedicta sit Sancta Trinitas,
Ausgabe: *Pierluigi da Palestrina in moderner Notation unter Zusammenziehung auf zwei Liniensysteme.
52 vierstimmige Motetten [...] redigiert von Hermann Bäuerle, Regensburg 1904.

In diesem Fall führt der oben beschriebene Weg zu dem folgenden Ergebnis:

  • die Finalis ist es
  • die Terz über der Finalis es ist groß (es-g unter Berücksichtigung der Generalvorzeichnung)
  • die Sekunde über der Finalis ist groß (es-f unter Berücksichtigung der Generalvorzeichnung)
  • die Tonart heißt daher Lydisch

Wenn Sie die Maus über das Bild oben bewegen, können Sie die Noten der alten Gesamtausgabe und die originale Tonart sehen (Finalis f mit einer b-Vorzeichnung). Auch in diesem Fall begegnet uns wieder ein lydischer bzw. hypolydischer Modus mit b-Vorzeichnung. Ob es sinnvoll ist, im Falle mehrstimmiger Musik zwischen authentischen und plagalen Modi zu unterscheiden (also z.B. zwischen Lydisch und Hypolydisch), wird in der Forschung umstritten diskutiert. Mehr zu den Problemen der Bestimmung eines Modus erfahren Sie in den folgenden Abschnitten.

Achtung: Es gibt Kompositionen in Dorisch und Lydisch mit b-Vorzeichnung (die aus heutiger Sicht wie ein d-Moll oder F-Dur aussehen). Aus diesem Grund ist eine Modusbestimmung über die vermeintlich charakteristischen Intervalle wie dorischen Sexte oder lydische Quarte im Hinblick auf ältere Musik nicht zu empfehlen.

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Eine differenzierte Anleitung zum Verständnis

Beschäftigt man sich nicht auf eine pragmatische Art mit dem Thema Kirchentonarten, Alte Tonarten oder Modi, steht man vor einer sehr komplexen Thematik, die fortwährenden Änderungen unterworfen war und in der Forschung entsprechend kontrovers diskutiert worden ist:

Die Frage nach der Gültigkeit der Modi für die Vokalpolyphonie des späten 15. und des 16. Jh. ist in der Forschung sehr kontrovers behandelt worden. Für Bernhard Meier (1974, 1992) »existieren […] die Modi im Bewußtsein des Komponisten schon vor aller konkreten musikalischen Erfindung« (1992, S. 14), sie bilden also – vergleichbar der Dur-Moll-Tonalität – ein fundamentales Referenzsystem und Kompositionsprinzip, das nicht nur den Choral, sondern auch die Polyphonie determiniert [...]
Carl Dahlhaus wandte sich vehement gegen Meiers Thesen. Er bestritt zwar nicht grundsätzlich dessen Behauptung von der universalen Gültigkeit des kirchentonalen Systems, lehnte aber die Gültigkeit des Tenorprinzips für diese Musik ab und sprach von einem »authentisch-plagalen Gesamtmodus« (1968, S. 184); wichtiger für ihn war der Zusammenhang zwischen Modalität und Klang- bzw. Klauseldisposition im Hinblick auf die Entwicklung hin zur harmonischen Tonalität.
Viel grundlegender ist die Kritik von Harold S. Powers: Er bestreitet, daß die Modi überhaupt notwendige Grundlage der mehrstimmigen Komposition waren. Er schlägt statt dessen ein neues Klassifizierungsprinzip vor, den »tonal type« (nach dem von S. Hermelink [1960] eingeführten, in ähnlicher Weise verwendeten »Tonartentyp«), der die Elemente zusammenfaßt, über die sich ein Komponist mindestens im klaren sein mußte, bevor er mit dem Schreiben begann: Tonsystem (cantus durus oder mollis), Schlüsselung und Grundton.

David Hiley, Thomas Schmidt-Beste und Christian Berger, Art. Modus, Ab ca. 1470, in: MGG Online (2016).

Zur Theorie

Die acht Modi

In der alia musica, einem musiktheoretischen Tractat aus dem 9. Jahrhundert, werden die Namen der indogermanischen (bzw. griechischen) Volksstämme Dorer, Phrygier und Lydier zur Bezeichnung für die Modi des Liturgischen Gesangs erwähnt. Danach gehören gregorianische Gesänge mit der Finalis d zum dorischen, mit der Finalis e zum phrygischen, mit der Finalis f zum lydischen und mit der Finalis g zum mixolydischen Modus. Diese Systematik wird heute auch als pseudo-griechisch bezeichnet, da die Benennung in der alia musica von der griechischen Nomenklatur (nach Boethius) abweicht.

Die Modi

Darstellung nach Hiley 1997, Sp. 404–404.

Über die Tonbuchstaben des mittelalterlichen Tonsystems bzw. dem systema teleion und den Modi war es Theoretikern früher möglich, Gesänge zu notieren.

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Transpositionen

Im 16. Jahrhundert wurden zur Notation von Musik üblicher Weise nur zwei Skalen verwendet: die Skala ›durus« (cantus durus) mit dem Ton b durus (unserem heutigen h) und die Skala ›mollis‹ (cantus mollis) mit dem Ton b mollis (unserem heutigen b).

cantus durus c d e f g a h
cantus mollis c d e f g a b

Für die oben genannten acht Modi heißt das: jeder Modus konnte entweder ohne Vorzeichen (im sog. untransponierten System) oder mit einem b (im sog. transponierten System) notiert werden. Praetorius beschreibt das in seinem Syntagma musicum für den dorischen Modus wie folgt (einen Kommentar wird beim Berühren der Graphik eingeblendet):

Praetorrius Syntagma musicum Praetorrius Syntagma musicum - Kommentar

Praetorius 1619, S. 36.

Wäre alles im Hinblick auf die Tonarten des 16. Jahrhundert logisch, gäbe es daher nur die folgenden Tonarten mit der entsprechenden Vorzeichnung:

Tonart Dorisch Dorisch Phrygisch Phrygisch Lydisch Lydisch Mixolydisch Mixolydisch
Vorzeichnung
Finalis d g e a f b g c

Doch leider sind Musik und Musiktheorie nur selten logisch. Denn wahrscheinlich hat in das Dorische und Lydisch über Gesangsregeln der Solmisation das b Eingang in die Generalvorzeichnung gefunden. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, ein dorischen Modus wie ein modernes d-Moll (also mit b-Vorzeichnung) und den lydischen Modus wie ein modernes F-Dur zu notieren (was oben in dem Merulo-Beispiel angesprochen worden ist. In Bezug auf die Modi Dorisch und Lydisch müssen die folgenden Fälle berücksichtigt werden:

Tonart Dorisch Dorisch Lydisch Lydisch
Vorzeichnung
Finalis d d f f

An diesem Punkt dürfte verständlich geworden sein, warum eingangs eine pragmatische Hilfe zur Bestimmung eines Modus gegeben wurde. Eine Hilfe, die Sie natürlich nicht mehr benötigen, wenn Sie eine Komposition eingehender analysieren und weitere Aspekte wie Melodiemodelle und Stimmenumfänge, Schlüsselungen sowie Kadenzdispositionen berücksichtigen können.

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Melodiemodelle

Bei Theoretikern finden sich zudem Memorierformeln, die zur Identifikation eines Modus dienten. Insbesondere die charakteristischen Wendungen dieser Memorierformeln können eine gute Hilfe bei der Bestimmung eines Modus sein. Die folgende Tabelle zeigt die Memorierformeln, wie sie sich in dem Traktat De musica cum tonario (Cap. 11) von Johannes Affligemensis finden:

Memorierformeln nach Johannes Affligemensis

Darüber hinaus geht man heute davon aus, dass Komponisten die einzelnen Stimmen bereits so erfunden haben, dass diese in ihrem Verlauf über die Tonart Auskunft geben. Verantwortlich dafür sind die charakteristischen Töne eines Modus, die sogenannte Quint-Quart-Spezies für die authentischen (D-a-d, E-a-e, F-c-f und G-d-g) bzw. Quart-Quint-Spezies für die plagalen (A-d-a, H-e-h, C-f-c und D-g-d) Modi. Die folgende Abbildung stammt aus dem 3. Teil des Syntagma Musicum von Michael Praetorius. Beim Berühren der Abbildung werden Charakteristika der einstimmigen Melodieverläufe (rechts) zu den Modi (links) veranschaulicht.

Diagramm Diagramm farbig

Schlüsselungen (Chiavetten)

Das folgende Beispiel zeigt konventionelle Schlüsselungen um 1600. Ziel der verschiedenen Schlüsselungen war es früher, dass Hilfslinien beim Notieren der einzelnen Stimmen vermieden werden konnten. Heute können wird dagegen die Schlüsselungen als Indiz für einen bestimmten Modus verwenden:

Tonart Chiavetten Alternative
Modi 1s, 3, 4 und 8
Modi 2 und 6
Modus 1
Modus 5
Modus 7
Modus 2s

Legende: s = selten

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Kadenzdispositionen

Entscheidend zur Bestimmung eines Modus sind auch, auf welchen Tönen der Komponist im Verlauf eines Stückes die Kadenzen positioniert hat. Diese sogenannte Kadenzdisposition ist in vielen Fällen verlässlicher als der Anfang- und Schlussklang eines Werkes. Bernhard Meier (1994, S. 181) gibt für die acht Modi die folgenden Kadenzorte an:

Tonart Kadenzen 1. Ranges Kadenzen 2. Ranges Kadenzen 3. Ranges
1. Modus d, d' a f
2. Modus d A und f a
3. Modus e, e' a, selten c g
4. Modus e a g, c
5. Modus f, f' c' a
6. Modus f c und a c'
7. Modus g, g' d' c'
8. Modus g c' und d d'

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Praxis

Solmisation und Toncharakter

In der Praxis waren zum Bewältigung des liturgischen Repertoires die Solmisationssilben verbreitet, die Guido von Arezzo erfunden haben soll und die Anzeigen, in welchem Umfeld ein Ton erklingt. Ein e hat im cantus durus einen Charakter, der durch einen Halbton darüber und einen Ganzton darunter bestimmt ist. Den gleichen mi-Charakter hat ein a im cantus mollis.

Johannes-Hymnus

Die Solmisationssilben sind Teil des Johannes-Hymnus, den Kinder früher so lange üben mussten, bis sie sich beim Singen der ersten Silbe einer Zeile die ganze Zeile und das Tonumfeld (also den ganzen Hymnus) innerlich vorstellen konnten. Die Solmisationsilben dienten also der innerlichen Hörvorstellung und sinnlichen Erschließung des Tonsystems. Die Silben ermöglichten sogar das Singen unbekannter Choräle über Handzeichen (mithilfe der sogenannten ›Guidonische Hand‹):

Die Guidonische Hand

Ieronimi de Moravia, in: Coussemaker 1876/IV, S. 222 (Text im Original über der Handabbildung).
Eine Beschreibung der Verwendung der Silben finden Sie hier.

Die Töne des Tonsystems, die über die Solmisationssilben erlernt wurden, standen allerdings nur in einer losen Beziehung zu den Modi bzw. Tonarten. Heute sind wir es hingegen gewohnt, ein Tonsystem, das durch Tonleitern repräsentiert wird, mit Tonarten zu identifizieren. Die Tonleiter c-d-e-f-g-a-h-c beispielsweise interpretieren wir mit der Tonart C-Dur und empfinden den ersten Ton bzw. das c wie selbstverständlich als Grundton dieser Tonart. Die Schwierigkeit beim Verständnis alter Tonarten liegt heute darin, dass die Töne des Tonsystems relativ unabhängig von den Tonarten waren. Über die Anweisungen, Leittöne in Kadenzen zu ergänzen und einen einzelnen Ton über ›la‹ als ›fa‹ (also z.B. die Wechselnoten a-h-a, d-e-d immer als a-b-a bzw- d-es-d) zu singen, müssen wir uns einen Modus relativ unabhängig von bestimmten Tönen vorstellen, die aus heutiger Sicht nicht zum Modus gehören. Die folgenden beiden Beispiel zeigen Anweisungen zu den beiden genannten Regeln der Solmisation:

Die Guidonische Hand

Anonymus, »Ars discantus secundum Johannem de Muris« (15./15. Jh., linke Abb.)
rechts: Maternus Behringer, Der freyen lieblichen Singkunst Nürnberg 1610 (rechte Abb.).

Das folgende Beispiel zeigt, wie eine charakteristische Melodiewendung aufgrund der »una nota super la«-Regel gesungen wurde, auch wenn als Generalvorzeichnung kein b vorgezeichnet worden ist. Beim Berühren der Abbildung sehen Sie, wie diese Wendung wahrscheinlich gesungen worden ist sowie die Skala, die in Verbindung mit der Gesangsregel zu der Änderung geführt hat:

Choralmelodie una nota super la

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Probleme der Modusbestimmung

Wenn Vorzeichnung, Schlüsselung, Schlussklang und Kadenzdisposition zu einem plausiblen Ergebnis führen, ist eine Modusbestimmung unproblematisch. Oftmals allerdings führt eine Untersuchung der einzelnen Parameter zu sich widersprechenden Ergebnissen.

Zum Beispiel komponiert Adrian Willaert in seinem Pater noster viele Kadenzen auf f und g, was keinem in der Theorie erörterten Schema entspricht, sich jedoch damit erklären lässt, dass alle Zeilen der Pater-noster-Choralmelodie auf diesen beiden Tönen enden.

Darüber hinaus ist − wie oben erwähnt − die melodische Führung der Einzelstimmen bedeutsam. Jochen Brieger schreibt in seinem Artikel Alternative Methoden der Modusbestimmung:

Für eine Zeit, in der die Existenz einer Partitur eher eine Ausnahme als die Regel darstellte und jeder geschulte Sänger mit dem gregorianischen Repertoire und seinen typischen Wendungen vertraut war, erscheint mir die Modusbetrachtung anhand der Melodik eine angemessene Methode zu sein [...] Den Modus gibt es aus meiner Sicht nicht, sondern eine Komposition definiert sich über einzelne, modal unterschiedlich geprägte Abschnitte.

Jochen Brieger, »Alternative Methoden der Modusbestimmung«, in: ZGMTH 3/1 (2006), S. 15–26.


Literatur

  • Edmond de Coussemaker, Scriptorum de musica medii aevi nova series, Tomus I–IV, Paris 1864–1876.
  • David Hiley, Stichwort Modus (Abschnitte I und II), in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., Bd. 6 (Sachteil), Kassel 1997.
  • Ulrich Kaiser, Der vierstimmige Satz. Kantionalsatz und Choralsatz, Kassel 2002.
  • Bernhard Meier, Alte Tonarten dargestellt an der Instrumentalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts, Kassel 1992, zit. n. d. 2. Aufl. 1994.
  • Michael Praetorius, Syntagma musicum, Bd. III, Wolfenbüttel 1619.