Manierismus in der Musik

von Ulrich Kaiser

Der Begriff Manierismus wurde im Sinne eines kunsthistorischen Epochenbegriffs vom dem Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818-1897) geprägt. Seither werden als manieristisch Übergangsformen zwischen ›Renaissance‹ und ›Barock‹ bezeichnet. In seinem Aufsatz »Gesualdos manieristische Dissonanztechnik« hat Carl Dahlhaus den für Musik relativ abstrakten Manierismus-Begriff konkretisiert, um ihn für ein Verständnis von Musik nutzbar zu machen. Er schreibt:

Als Eigentümlichkeit aber, durch die sich Gesualdo als Manierist verrät, erscheint die Tendenz, die Auffälligkeit und Expressivität von Dissonanzen dadurch zu steigern, daß technische Mittel, die für sich genommen kaum frappieren würden, in extremer Häufung und Verschärfung verwendet werden [...]
Gesualdos Dissonanzgebrauch ist, wie die Zitate zeigen, exzessiv. Von einer »Emanzipation der Dissonanz« aber kann keine Rede sein. Die Voraussetzungen, von denen Gesualdo ausging, um aus ihnen ungewöhnliche Konsequenzen zu ziehen, waren durchaus traditionsgebunden [...].

Dahlhaus 1974/2001, S. 421.

Aus diesem Zitat lässt sich deutlich entnehmen, welche Erscheinungen in der Musik als Manierismus bezeichnet werden können. Nach Carl Dahlhaus sind Kompositionen manieristisch, in denen traditionelle Techniken derart übersteigert zur Anwendung kommen, dass als klangliches Resultat etwas entsteht, dass gänzlich neu wirkt und traditionellem Komponieren entgegen zu stehen scheint. In dieser Form ist manieristisches Komponieren nicht nur zu jeder Zeit, sondern auch nur in vereinzelten Werken eines Komponisten denkbar. Das folgende Tutorial veranschaulicht den Begriff des musikalischen Manierismus für die Musik des 18., 19. und frühen 20. Jahrhnuderts. Ein Tutorial zum maniristischen Kontrapunkt um 1600 finden sie hier.

J. S. Bach, Crucifixus aus der großen Messe in h-Moll

Die h-Moll-Messe BWV 232 gilt als das letzte große Vokalwerk, das Johann Sebastian Bach in den letzten Jahren seines Lebens aus verschiedenen Einzelsätzen zusammengestellt hat. Vorläufer der h-Moll-Messe war eine 1733 komponierte Missa mit den Sätzen Kyrie und Gloria, für die übrigen Sätze griff Bach bei der Endredaktion auf bereits fertiggestellte Kompositionen zurück. Es gibt übrigens keinen Hinweis darauf, dass Bach das ganze Werk je zu seinen Lebzeiten einmal gehört hätte, die Erstaufführung aller Sätze sollte erst 1859 in Leipzig erfolgen.
Das Crucifixus entstammt der Kantate "Weinen, Zagen, Sorgen, Klagen" BWV 12, die Bach 1714 für den Sonntag Jubilate komponiert hatte. Das Crucifixus von Bach ist eine Ostinatokomposition (vgl. hierzu das Tutorial Passacaglia) auf der Grundlage des chromatischen Lamentobasses. Die eingangs zu hörende Harmonik entspricht dem folgenden Modell:

Lamentobass chromatisiert

Insbesondere die Wiederkehr der Imitationen nach einem homophonen Abschnitt klingen irritierend und der Dissonanzbehandlung revolutionär:

Messe h-Moll BWV 232 Notenbeispiel Messe h-Moll BWV 232 Notenbeispiel farbig

Quelle: YouTube.

Auf kürzester Zeit treffen hier die Klänge aufeinander, die sich als Folge nicht sinnvoll harmonisch-tonal erklären lassen. Diese revolutionäre Außenseite ist die Kehrseite einer exquisiten, jedoch traditionellen Lamentobass-Harmonisierung, die Bach durch angesprungene Nebennoten verschleiert.

Klang Anmerkungen
C-Dur nach dem e-Moll auf der Eins des Taktes als 5-6-Seitenbewegung über e zu verstehen
dis-verminderter Septakkord entsteht über der Note dis durch die Überbindung des c (= 7-6-Synkope)
B-Dur wird über eine angesprungene Nebennote ais bzw. einen saltus duriusculus herbeigeführt, der gleichzeitig zur chromatischen f Mittelstimme des Modells erklingt
h-halbverminderter Septakkord charakteristische Dissonanz einer Kadenz nach a-Moll, die Dissonanz a ist (theoretisch) vorbereitet durch den dis-Klang
Cis-Dur erklingt anstelle der Auflösung nach a und wird wie bereits der B-Dur-Klang enharmonisch (durch Überbindung des f als Vorhalt zu e) und durch die angesprungene Nebennote gis zu a herbeigeführt
dis-ganzverminderter Septakkord substituiert den a-Moll-Klang und wird durch die chromatisch angesprungene Nebennote dis erreicht
h-halbverminderter Septakkord Signalakkord für eine Unterquintmodulation (Motivo di cadenza) anstelle der erwarteten Kadenz nach e-Moll

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W. A. Mozart, ›Dissonanzen‹-Quartett KV 465 (Einleitung)

Mozarts Ausarbeitung in der Einleitung des 1785 vollendeten C-Dur-Quartetts KV 465 klingt gespenstisch und wenn man sie nicht kennt: überhaupt nicht nach Mozart. Während die Außenseite revolutionär anmutet, ist die Innenseite traditionell gestaltet, denn sie besteht aus der Harmonisierung einer absteigenden Tonleiter (vgl. hierzu die Regola dell'ottava). Den ersten Teil der Tonleiter bildet dabei ein chromatischer Lamentobass mit 5-6-Harmonisierung (beim Berühren der Abbildung rot markiert), die bereits in Verbindung mit dem Madrigal Moro lasso besprochen worden ist. Diese Harmonisierung wird verschleiert durch das querständige Einsetzen der Stimmen sowie zahlreiche Vorhalte. Den zweiten Teil der Tonleiter hat Mozart diatonisch unter Verwendung von mit 7-6-Synkopen ausgearbeitet (grün markiert). Anschließend folgt der Lamentobass noch einmal wie in einem Zeitraffer (diminuiert, gelb markiert) und beendet wird die Einleitung durch einen dominantischen Orgelpunkt (blau markiert), der ein sich anschließendes, freundliches und unspektakuläre Allegro vorbereitet.

Lamentobass chromatisiert Lamentobass chromatisiert

Quelle: YouTube.

Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte der Einleitung dieses Quartetts finden Sie hier im Tutorial Lamentobass.

Cl. Debussy, Suite bergamasque

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M. Reger, Sonate für Orgel

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Zur Didaktik

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Literatur:

  • Carl Dahlhaus, »Gesualdos manieristische Dissonanztechnik«, in: Convenium Musicorum. Festschrift Wolfgang Boetticher zum sechzigsten Geburtstag am 19. August 1774, Berlin 1974, S. 34–43, zit. nach: Carl Dahlhaus, Musiktheorie des 17. Jahrhunderts – 18. Jahrhundert (= Gesammelte Schriften 3), Laaber 2001, S. 416–425.

Bitte haben Sie ein klein wenig Geduld, bald geht es hier weiter:

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