Dieses Tutorial wird nicht mehr gewartet und ist unter dem Titel Inventionen schreiben (Bach) auf der Open Music Academy für die gemeinsame Arbeit freigegeben worden.

Invention – Stilübung und Analyse

von Ulrich Kaiser

Eine Aufgabenstellung − beispielsweise einer Prüfung in der professionellen Musikausbildung − könnte lauten: Schreiben Sie mithilfe des gegebenen Anfangs eine Invention in D-Dur:

Abbildung Schema erster Formteil

Der erste Hauptabschnitt (Exposition)

Der einstimmig gegebene Anfang gibt schon einen Hinweis darauf, in welcher Form der Beginn ausgeführt werden soll. Johann Sebastian Bach hat uns in seinen Inventionen in d-Moll und F-Dur ein Vorbild für eine solche Ausführung gegeben. Die folgende Abbildung zeigt schematisch den ersten Hauptabschnitt der Invention in d-Moll:

Abbildung Schema erster Formteil

Studieren Sie den ersten Hauptabschnitt mit der Ausweichung in die Nebentonart der Invention in d-Moll BWV 775 von J. S. Bach:

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)
1. Phase: Themenausarbeitung mit obligatem Kontrapunkt

Um zu einem Inventionsthema einen Kontrapunkt zu schreiben, den Sie beibehalten können und der immer zusammen mit dem Thema erklingt (obligater Kontrapunkt), müssen sie sich als erstes einige Gedanken über die Harmonisierung machen. Der harmonische Rhythmus − also in welchem Rhythmus sich Harmonien abwechseln − verläuft für das gegebene Inventionsthema in Vierteln. Die Harmonisierung des ersten Viertels mit der Grundtonart D-Dur ist ein Standard und die Harmonisierung des zweiten Viertels recht eindeutig, da die Figuration bzw. Quarte fis-h auf h-Moll verweist (das a lässt als Septime in h-Moll interpretieren). Schwieriger ist das dritte Viertel, dass G-Dur oder e-Moll nahelegt, während die Quarte e-a des vierten Viertels die Harmonisierung A-Dur verrät (mit der Septime g). Da sich für das 18. Jahrhundert bzw. die Zeit J. S. Bachs verallgemeinern lässt, dass diejenigen Harmoniefolgen besonders zwingend wirken, die viele Quintfälle enthalten, fällt die Wahl nicht schwer: Die Harmonisierung D-h-G-A-D besteht aus zwei Terzfällen, einem Sekundanstieg und lediglich einem abschließenden Quintfall, die Folge D-h-e-A-D hingegen weist drei Quintfälle auf (h-e / e-A / A-D):

Abbildung Schema erster Formteil

Damit ein Kontrapunkt über und unter dem Thema erklingen kann, sollten Sie im zweistimmigen Satz Terzen, Sexten und die verminderte Quinte bzw. übermäßige Quarte bevorzugt verwenden. Denn diese Intervalle verhalten sich satztechnisch genauso wie ihre Komplementärintervalle:

Abbildung Schema erster Formteil

Das gilt natürlich auch für 6-7-6- oder 2-3-2-Synkopendissonanzen, bei denen die Stimmen sich auch problemlos vertauschen lassen, ohne dass satztechnische Fehler entstehen.

Anmerkung:
Im zweistimmigen Satz des 18. Jahrhunderts sind die Quinte und Quarte problematische Intervalle, die Sie wirklich nur dann einsetzen sollten, wenn Sie sich ganz sicher sind, dass diese Intervalle in dem von Ihnen geplanten Kontext typisch sind und gut klingen.

Untersuchen Sie, welche Intervalle in der zweistimmigen Invention in d-Moll von J. S. Bach auf den Takteinsen erklingen. Erstellen Sie eine kleine Statistik: Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

Wenn Sie nun das Inventionsthema dem eingangs gegebenen Schema entsprechend setzen, ergibt sich der folgende Anfang:

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

Achten Sie darauf, dass die Wiederholung des Inventionsthemas in der rechten Hand eine Oktave höher erklingt als zum Anfang. Den Lagenwechsel sollten Sie immer einzurichten versuchen, wenn der Klangraum nach oben bis zum c''' nicht überschritten wird. Denn eine hohe Klanglage am Ende der Themengestaltung ist eine gute Basis für die Ausarbeitung der sich anschließenden Quintfallsequenz die ja abwärts führt und ansonsten in Gefahr steht, in einen zu tiefen Klangraum zu führen.
Das Gerüst eines Kontrapunkts, das imperfekte Konsonanzen (Terzen und Sexten) bevorzugt, könnte wie folgt aussehen:

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

Wenn der Gerüstsatz gut klingt, kann man ihn figurieren und ihm durch einen Rhythmus ein charakteristisches Äußeres verleihen. Im Folgenden wurde ein ruhiger Rhythmus aus Vierteln und Achteln gewählt, um den Kontrapunkt von den Sechzehnteln des Inventionsthemas abzuheben:

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

2. Phase: Die Quintfallsequenz

Die zweite Phase des ersten Hauptabschnitts der Invention besteht meistens aus einer Quintfallsequenz wie beispielsweise in den Inventionen in e-Moll BWV 778, a-Moll BWV 784 oder G-Dur BWV 781 und A-Dur BWV 783. Wenn Sie hierzu weitere Informationen benötigen, können Sie sich in dem Tutorial Die Quintfallsequenz in der Zweistimmigkeit eingehend informieren.
Die Nebentonart einer Komposition in Dur ist die V. Stufe, also für unsere Invention in D-Dur die Tonart A-Dur. Die Modulation kann nun direkt über die Quintfallsequenz erfolgen, indem die E-Stufe in D-G-cis°-fis-h-e-A(-D) als E-Dur gebracht und somit die A-Dur-Stufe dominantisch erreicht wird:

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

Bei der Überlegung des Gerüstsatzes sollten Sie unbedingt auf imperfekte Konsonanzen auf den schweren Zeiten achten und im Blick behalten, ob der Gerüstsatz die Verwendung charakteristischer Motive aus dem Inventionsthema ermöglicht. Zum Beispiel hätte zur Darstellung der G-Dur-Harmonie in der zweiten Takthälfte des 4. Taktes die Sexte h-g näher gelegen als die hier verwendete Terz h-d. Aber vom d aus lässt sich sehr gut das Motiv d-g-fis-g zur Darstellung der G-Dur-Harmonie verwenden:

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

Abschließend können Sie die ganze Quintfallsequenz motivisch ausarbeiten, zum Beispiel:

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

Untersuchen Sie, auf welche Weise Bach in der ersten Quintfallsequenz (dunklere Passage bzw. T. 7−T. 16) mit Motiven aus dem Inventionsthema arbeitet. Erstellen Sie ein grafisches Schema: Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

3. Phase: Die Kadenz

Auch wenn die Kadenzausarbeitung in dieser Invention nicht so kunstvoll ausfallen wird wie in Bachs d-Moll-Invention, so dürften Ihnen doch schon kleine Änderungen aufgefallen sein, wenn Sie den Abschluss der Gerüstsatzausarbeitung mit der abschließenden motivischen Ausarbeitung der Quintfallsequenz vergleichen. Das liegt daran, dass Kadenzen besonders plausibel klingen, wenn sich der Kadenzvorgang aus einem Sextakkord heraus entwickelt (mehr zur Kadenz können Sie hier erfahren). Aus diesem Grunde wurde der Bass für die Kadenz in A-Dur noch nicht in den Grundton a, sondern in die Terz cis geführt:

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

In der Abbildung sehen Sie im Schlusstakt die Noten eines dreistimmigen Gerüstsatzes der Kadenz in der Nebentonart. Das folgende Notenbeispiel zeigt eine mögliche Figuration bzw. Diminution der Kadenz, wobei die Noten, die zu dem Kadenz-Gerüstsatz gehören, rot markiert sind:

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)


Der zweite Hauptabschnitt (Durchführung)

Der zweite Hauptabschnitt beginnt häufig mit einer Imitation des Anfangsmotivs, jedoch üblicherweise mit vertauschten Stimmen und in der Tonart der Dominante bzw. V. Stufe:

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

An diese erste Phase schließt sich eine modulatorische Bewegung an, die von der V. Stufe über eine Zwischendominnate zur II. Stufe und anschließend über eine weitere Zwischendominante in die wichtigste Ausweichungsstufe eines Mittelteils führt: die Tonikaparallele:

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

Eine attraktive Gestaltung dieses harmonischen Weges hat J. S. Bach in seiner Invention in F-Dur BWV 775 ausgearbeitet. Studieren Sie den harmonischen Weg von der V. Stufe in die VI. Stufe der F-Dur-Invention von J. S. Bach und versuchen Sie, Noten und Schema aufeinander zu beziehen: Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)
Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

Das Harmonieschema können sie nun in einem ersten Schritt im Zeitverlauf planen, also wie der harmonische Rhythmus verläuft und wie viele Takte es insgesamt einnehmen soll. Für den folgenden Vorschlag wurde ein harmonischer Rhythmus von halben Takten gewählt, wobei in den tonikalen Stationen e-Moll und h-Moll jeweils ein Takt eingeschoben worden ist, um nach dem Vorbild der d-Moll-Invention das Inventionsthema mit dem obligaten Kontrapunkt zu platzieren (selbstverständlich mit Stimmtausch). Anschließend ist ein Gerüstsatz in imperfekten Konsonanzen zu wählen, so dass jede Harmonie durch eine Terz oder Sexte dargestellt wird. Zum Beispiel:

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

Als nächstes kann das Inventionsthema mit dem obligaten Kontrapunkt in der Ausarbeitung platziert werden:

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

Abschließend arbeiten Sie für die modulierenden Takte noch eine gut klingende Figuration aus, die im Sinne kunstvoller Gestaltung auch im doppelten Kontrapunkt erklingt, zum Beispiel:

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

Natürlich haben Sie verschiedene Möglichkeiten, den Gerüstsatz aus imperfekten Konsonanzen zur Darstellung des Harmonieverlaufs zu entwerfen. Wichtig ist dabei nur, dass Sie die Taktübergänge und Klanglage nicht aus dem Blick verlieren. Vergegenwärtigen Sie sich hierzu noch einmal, dass unser Inventionsthema auf dem Grundton, der obligate Kontrapunkt hingegen auf der Terz beginnt. In dem folgenden Beispiel wurden in den tonikalen Takten linke und rechte Hand (Inventionsthema und Kontrapunkt) vertauscht. Um passende Anschlüsse zu komponieren, müssten andere Töne für den Gerüstsatz gewählt werden:

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

Die geänderten Gerüstsatztöne erzwingen auch eine Änderung der figurativen Ausarbeitung. Eine Diminution des alternativen Gerüstsatzes könnte folgendermaßen aussehen:

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

Doch da diese Ausarbeitung klangliche Brüche hat und nicht so homogen wirkt (sowohl was die Figuren angeht als auch im Hinblick auf den missglückten Übergang vom zweiten zum dritten Takt sowie weiterer klanglicher Ungeschicklichkeiten), verwerfen wir diese Fassung und bleiben bei der ursprünglichen Ausarbeitung. Im folgenden sehen Sie alle bisher ausgearbeiteten Abschnitte:

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

Analysieren Sie den harmonischen Weg der Durchführung der Sonate facile in C-Dur KV 545 von Wolfgang Amadé Mozart und vergleichen Sie den Harmonieverlauf der Sonate mit dem der Invention in F-Dur-von J. S. Bach: Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)
Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)
Einen wissenschaftlichen Beitrag zu diesem Modell finden Sie auf mozartfoschung.de.

Nehmen wir uns wieder die F-Dur Invention Bachs als Vorbild, schließt sich nach dem Erreichen der Tonikaparallele, also des harmonischen Ziels im Mittelteil einer Komposition in Dur, eine Quintfallsequenz an. Diese Quintfallsequenz ist erstaunlich lang (d-g-C-F-h°-e-A-d-g-C-F-B) und damit sie nicht eintönig wirkt, wechselt der Komponist beim erneuten Erreichen der Tonikaparallele bzw. des d-Moll-Akkords die Figuration. Bach beendet die Quintfallsequenz mit dem harmonischen Ziel Subdominante der Ausgangstonart. Für die Stilübung können wir die Quintfallsequenz verkürzen, bis die Subdominante bzw. IV. Stufe das erste Mal erklingt. Motivisch können wir die Quintfallsequenz zwar an die erste Quintfallsequenz der Takte 4−8 anlehnen, müssen allerdings darauf achten, dass sie diesem Abschnitt nicht zu ähnlich wird (warum das so sein soll, dazu gleich mehr). Aus der F-Dur Invention borgen wir uns die Idee, den wichtigen Quintfall zur Subdominante klanglich durch eine chromatische Note kenntlich zu machen (das es als Dominantseptime in der F-Dur-Invention, das in unserer Stilübung zum c wird):

Abbildung Bach, Invention in d-Moll (Anfang)

Von der Subdominante aus wiederholt Bach in seiner F-Dur-Invention die Takte 4−12, die in dieser Form das Ende der Invention bilden:

Farblegende:
  • rot: Modulationen, die von einer Ausgangstonart in die Oberquinte führen (also I -> V und IV -> I)
  • grün: Modulation V. Stufe (D) II. Stufe (D) VI. Stufe
  • gelb: Quintfallsequenz (zur Subdominante bzw. IV. Stufe)

Die Strategie, in die Ausgangstonart zurück zu gelangen, indem man die Oberquintmodulation des Anfangs gegen Ende wörtlich von der vierten Stufe aus wiederholt, ist kompositionsgeschichtlich bedeutsam und aus technischer Sicht ökonomisch (weil man einen ganzen Abschnitt − transponiert − wiederholen kann, ohne dass diese Wiederholung überflüssig erscheint). Das folgende Schaubild veranschaulicht diese Möglichkeit der Schlussgestaltung:

Abbildung Reprisenschema

Das folgende Notenbeispiel zeigt in den oberen beiden System die Takte 3−8 in Unterquinttransposition, also beginnend mit der Subdominante bzw. IV. Stufe, sowie in den den Systemen 3−4 eine klangliche Differenzierung, die lediglich durch Oktavtransposition der roten Noten in den oberen System entsteht:

Abbildung Modifikationen in der Reprise

Diese klanglichen Veränderungen haben allerdings eine bedeutende Wirkung. Wegen der zu tiefen Lage der Schlusskadenz im vorangegangenen Beispiel klang das Ende wenig überzeugend. Durch die Transpositionen der markierten Noten entstehen nun für das Hören verschiedene Linien (Heinrich Schenker nennt solche Linien Züge und markiert sie in seinen graphischen Analysen durch längere Notenhälse, die mit Balken verbunden werden können). Diese Linien wiederum führen in der Inventions-Stilübung zwar alle in den Grundton d, allerdings nicht in der gleichen Lage. Das wiederum lässt sich jetzt sehr schön durch eine Kadenzwiederholung ausarbeiten, wobei die erste Kadenz einen Schluss in der höheren Oktavlage (grüne Noten), die zweite einen in der tieferen (rote Noten) gestaltet. Und damit die erste Kadenz die Wirkung der zweiten nicht beeinträchtigt, kann sie durch einen Trugschluss abgeschwächt werden:

Abbildung Modifikationen in der Reprise

Das folgende Notenbeispiel fasst alle Arbeitsschritte zusammen und zeigt die vollständige Ausführung einer Invention zu dem eingangs gegebenen Thema: